Dann kommt die Frage: Wer bin ich und was brauche ich?
Für viele ältere Autist*innen war und ist es ein langer Weg, herauszufinden, wer sie sind. Wie groß und vielfältig die eigene Persönlichkeit sich leben lässt. Welche Bedürfnisse und Fähigkeiten das eigene Neuro-Setting mitbringt. Und selbst, wenn man dem eigenen "autistischen Sein" näherkommt, muss man oft erst erlernen, für sich einzufordern und anderen Grenzen zu setzen.
Viele Jahrzehntelang hat man Autist*innen gesagt, was und wie sie zu sein haben. Nämlich ein Abbild anderer. Was ihr Neuro-Setting benötigt, sie sich wünschen und bedürfen, war selten Thema. Die Frage, "was brauchst du, dein Körper & Geist, um gesund und erfüllt zu leben", taucht(e) selten auf. Statt dessen gab/gibt es Ratschläge, Druck und Zwang. Es galt, die eigenen Bedürfnisse möglichst vollständig zu verdecken. Es wurden Regel aufgestellt, wie man lächeln, Smalltalk machen muss, sich kleiden und bewegen soll. Und natürlich, was auf keinen Fall geht: nämlich sichtbar autistisch sein. Stimming galt als Zeichen einer Schwäche und sollte "überwunden" werden. [1]
Dabei kam das Wort Autismus im Leben älterer Autist*innen oft nicht einmal vor! Jahrzehntelang gab es enggefasste, rein defizit-orientierte Stereotype, die bestimmten, wer Autist*in ist. So wurde nach einschränkenden Defizit-Attributen gescannt, die die Vielfalt autistischen Seins nicht im Ansatz widerspiegelten.
Genderbias schränkt ein
Autist*innen wurden nur als CIS-Männer und "auffällig anders" gedacht. 2023 sprach die LMU München noch immer von einen Genderbias, der zu einer Unterdiagnose autistischer Frauen führte: "Es ist zu vermuten, dass es in der Bevölkerung noch einen erheblichen Anteil an jungen weiblichen Autistinnen gibt, die bisher nicht diagnostiziert wurden ".[2]
So wurde wiederholt beschrieben, dass weiblich gelesene Autist*innen mehr Symptome zeigen müssen, um überhaupt in eine Diagnostik zu kommen. Bedenkt man dann, dass Autistinnen wahrscheinlich einige "Symptome" weniger aufweisen bzw. diese falsch gelesen werden [3a, 3b] versteht man sehr schnell, warum wir heute so viele spät-diagnostizierte Autist*innen haben. Diese werden erst sichtbar, seit die starren Regeln von starken Autist*innen hinterfragt werden und sich nun langsam auflösen.
Genderbias bremst aus
Wie mächtig dieses "nur Männer sind Autisten"-Stereotyp ist, habe ich selbst schon erlebt, als mir ein Neurologe (und seines Zeichen auch Psychiater) freudig mitteilte, ich sei keine Autistin, weil "dies sind ganz selten". Ich habe wohl "einige dieser Bücher gelesen, wo Frauen erzählen, dass sie autistisch wären..aber.." Als Person mit einer S3-leitliniengerechten Diagnose (und vorheriger "Verdachtsdiagnose") schüttele ich den Kopf über so ein unwissendes Sendungsbewusstsein. Aber was, wenn da ein Mensch gesessen hätte, der erst im Stadium "über eine Diagnostik nachdenken" gewesen wäre?
Noch immer sind sich viele ältere Autist*innen nicht bewusst, dass sie autistisch sind. Trauen sich nicht, an einer Diagnostik teilzunehmen oder werden von den extremen Wartezeiten abgeschreckt. Damit gehen ihnen kostbare Informationen und Chancen verloren. Diese Menschen spüren üben seit viele Jahrzehnte die Diskrepanz zwischen dem inneren Sein und den äußeren Ansprüchen. Sie sind auf der Suche nach sich selbst, um gesund und im Einklang mit sich selbst leben zu können.
Wer bin ich?
Diese Frage erscheint immer öfters und drängender und doch dauerte es bei vielen autistischen Menschen länger als ein halbes Leben, bis die Frage offen nach außen getragen werden kann. Über Jahrzehnte gab es nur ein, so sollst du sein und kein, sei du selbst. Glück wurde dem versprochen, der sich möglichst weit von sich selbst entfernte.
"Ver"lernen
Es gibt Dinge, die autistischen Menschen gut tun und doch wird ihnen frühzeitig beigebracht, dass diese Dinge "seltsam", "auffällig" sind. Statt zu erlernen, was der Gesundheit und dem Wohlbefinden hilft, wird gelernt, was gern gesehen und was abfällig gewertet wird. Und so zwingt ein autistischer Mensch sich über viele Jahre, die Dinge, die gut tun - so wie Stimming - nicht zu nutzen. Autist*innen wurden über viele Jahrzehnte angehalten, Verhaltensweisen zu "ver"lernen, die für die autistische Psyche gesund und selbstfürsorglich sind. Und so entsteht eine Ambivalenz zwischen dem, was gut tut und gesund ist und dem, was man sich selbst erlaubt.
Anhang
[1] ‘People should be allowed to do what they like’: Autistic adults’ views and experiences of stimming
"Furthermore, 80% of survey respondents reported that they generally or sometimes enjoyed stimming (with another 11% indicating that their enjoyment depended on the particular stim), yet 72% had been told not to do it."
[2] Breddemann A et al. Geschlechtsunterschiede in der Autismusdiagnostik, Psychiatrische Praxis, 2023, Thieme, Seite 7
[3a] Journal of Autism and Developmental Disorders (2022) 52:4474–4489.
"Females may need to display greater difficulty in ASD symptomology, adaptive behaviour, and/or intellectual ability compared to males in order to receive an ASD diagnosis.."
[3b] Factors influencing the probability of a diagnosis of autism spectrum disorder in girls versus boys
"we found that overall RRB symptoms were less strongly associated with ASD in girls than in boys. Thus, whereas there was a notable contrast in the level of RRB symptoms between boys with ASD and non-ASD, with boys with ASD showing higher levels of RRB symptoms, this was not the case for girls"
Info: RRB = "repetitive and restricted behavior"
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